Photos: Sophia Zoe, Berlin

    18. Dezember 2012:

    Manchmal muss mensch gar nicht weit und lange reisen. Auch wenige Tage können ausreichen, um viel Verstörendes und ebenso viel Anregendes zu erleben. Ich war Anfang Dezember eine Woche an der belgischen und französischen Küste unterwegs, um für ein Projekt im nächsten Sommer Kontakte zu knüpfen. Das Projekt wird sich mit Migration nach und in Europa und mit europäischer Grenzpolitik befassen. Ein paar der Erlebnisse werden in meinem Kopf noch lange nachwirken und ich möchte, dass sie vielleicht auch in euren Köpfen wirken. Deshalb schreibe ich sie auf. Sie zeigen einerseits den alltäglichen Wahnsinn in dieser Welt, aber auch die vielen hoffnungsvollen, menschlichen, zunächst kleinen Initiativen.

    “I’m looking for a life”
    Ein junger Mann aus dem Iran nannte das als seine Motivation, warum er gerade an einer französischen Autobahn in einem Jungle “lebt”. Nachts versucht er, heimlich auf einen LKW zu gelangen und mit diesem auf einer Fähre nach England überzusetzen. Er spricht fließend Englisch, schreibt Bücher und sucht eben ein Leben. Da er die falschen Papiere hat, muss er es auf illegalen Wegen versuchen.

    Zelten in den Dünen
    Die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt und vom Meer her weht eine steife Brise. Wir laufen durch die Dünen auf der Suche nach Jungles – improvisierten Zeltunterkünften in der Nähe von Orten, an denen eine Chance besteht, ungesehen nach England zu gelangen. Nach einigem Vor und Zurück auf engen Pfaden gelangen wir an einem Ort, an dem sich drei Menschen gerade einen Milchtee bereiten und ihre Schuhe an der Feuerstelle trocken. Sie sind Hazara aus Afghanistan und schon eine Weile in Europa. Einer kann sich fließend auf Italienisch verständigen und berichtet von seiner bisherigen Odyssee. Sie schlafen zur viert in einem kleinen Planenzelt. Ringsum stapelt sich der Müll – eine Müllabfuhr gibt es hier nicht und beim nächtlichen Aufbruch ist in den letzten Jahren schon so einiges zurück geblieben…

    “agence immobilière” = Immobilienmarkler
    In Calais fühlt sich die Stadt nicht mehr für die Migrant_innen zuständig. Es gibt sie offiziell nicht, auch wenn sie zu Hunderten durch die Straßen laufen. Für Menschen, die es nicht gibt, braucht es auch keine Unterkunft, keine sanitären Anlagen, etc. Da die Menschen trotzdem da sind und aus diversen Gründen weiter nach England wollen, gibt es viel zivilgesellschaftliche Hilfe – morgens, mittags und abends Essensausgabe; die Caritas fährt Migrant_innen im Shuttle-Service an den Ortsrand zum Duschen; … Aber wo wohnen, gerade im Winter? In Calais gibt es zahlreichen Leerstand… und Aktivist_innen aus ganz Europa, die einerseits Menschenrechtsbeobachtung machen und andererseits für zumindest halbwegs trockene Schlafmöglichkeiten sorgen… Immer wieder neu – ein ständiges Katz- und Maus-Spiel mit der Polizei.

    “élus hospitaliers”
    Nicht alle Politiker_innen erproben die Vogel-Strauss-Taktik. In den letzten Jahren hat sich in Nordfrankreich ein Zusammenschluss der „gastfreundlichen Gewählten“ gegründet, die anerkennen, dass jeder Mensch – unabhängig von seinen Papieren – grundlegende Menschenrechte hat oder zumindest haben sollte. In ihrem Einflussbereich versuchen sie, die Situation der durchziehenden Migrant_innen zu verbessern. Inzwischen haben sie es auch geschafft, auf nationaler Ebene Gehör zu finden. Vielleicht kippt ja irgendwann doch das Abkommen („traité du Touquet“), in dem sich Frankreich dazu verpflichtet, Migrant_innen von Großbritannien fern zu halten.

    auf der Suche nach einem Platz zum Leben
    In wievielen Ländern kann mensch versuchen, einen Platz zum Leben zu finden, bevor mensch endgültig daran zerbricht? Nicht alle Migrant_innen in Calais wollen nach England! Einige versuchen, in Frankreich Asyl zu finden. Manche von ihnen haben es auch schon in anderen europäischen Ländern versucht. Unter ihnen ist einer, der bereits drei Jahre in Deutschland gelebt hat. Er kam 1994 direkt aus Eritrea dorthin. 1997 war klar, dass er nicht bleiben dürfe. Er versuchte es weiter in Schweden, Belgien, … nirgends erhielt er eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis. Sein Bruder ist inzwischen Deutscher geworden. Er selbst spricht auch 15 Jahre später immer noch erstaunlich gut Deutsch, aber Deutschland wird nie seine neue Heimat werden. Vielleicht klappt es in Frankreich. Manche Menschen sehen mit Ende 30 schon unglaublich alt aus…

    „zu Frankreich kann ich nichts sagen“
    Ein Mensch aus dem Tschad, der ebenfalls versucht, in Frankreich Asyl zu finden, ist bei einer Veranstaltung bereit, die Fragen der Anwesenden zu seiner Flucht, seinem Weg nach Europa, seinen Erlebnissen mit der Polizei, seinen Zukunftsplänen, etc. zu beantworten. Eine gute Möglichkeit, sich bewusst zu machen, wer warum seiner Herkunftsländer, seine Familie, seine Freunde und alles andere verlässt. Und wer daran verdient bzw. vor allem wieviel damit verdient wird, dass Europas Grenzen zunehmend dicht sind. Ein Fährticket übers Mittelmeer kostet 100 Euro. Eine Überfahrt mit 800 Menschen auf einem alten Kutter ist für 1.500 Euro zu haben. Das macht 1,2 Mio. Euro Einnahmen pro Fahrt… Und dann diese betretenen Gesichter, wenn deutlich wird, was es heißt, irgendwo Asyl zu beantragen. Nie wieder zurück ins Herkunftsland. Und was, wenn die Familie nicht nachkommen darf, weil Geld und Wohnraum nicht den Gesetzesvorgaben genügen? … Welche Rolle Frankreich im Tschad spielt, will der Mensch lieber nicht thematisieren.

    Duldung oder was sonst?!
    Als ich meine Magisterarbeit zur Situation von Geduldeten schrieb, habe ich mich immer gefragt, wie das wohl in anderen europäischen Ländern läuft, wenn Asylsuchende abgelehnt werden. Da Deutschland ziemlich restriktive Migrationsgesetze hat, ging ich davon aus, dass es anderswo bestimmt „besser“ geregelt ist. Nun war ich doch sehr erstaunt, dass zumindest die Niederlande, Belgien, Frankreich und Schweden abgelehnte Asylsuchende einfach auf die Straße setzen. Das hätte ich nicht gedacht… Trotz allem Druck, der in Deutschland auf Geduldete ausgeübt wird, hat es vielleicht doch etwas Gutes, dass deutsche Bürokraten Menschen nicht ganz so einfach inexistent machen können.

    Vernetzung gegen Charterabschiebungen
    Ich kann mir nicht helfen, aber ich finde es immer wieder genial, wenn sich Menschen zusammenfinden und gemeinsam überlegen, wie sie der alltäglichen Grenzziehung ein weltoffene und menschliche Gesellschaft entgegensetzen können – nicht nur für Europäer_innen (die mit ihrem Pass eh fast überall hinkommen), sondern für alle Menschen. Beim Treffen werden aus diversen Ländern Informationen ausgetauscht zum letzten Schrei der europäischen Migrationspolitik – Sammelabschiebungen von ca. 50 Menschen in Begleitung von doppelt so vielen Polizist_innen in gecharterten Flugzeugen, oft koordiniert von der Grenzschutzagentur Frontex. Mit dabei sind nigerianische Aktivist_innen, die Nigeria davon abbringen wollen, an europäische Staaten Abschiebepapiere zu verkaufen, und Papierlose, die Europas Wirtschaft am Laufen halten, aber keine eigene Zukunftsperspektive habe. Besonders spannend ist, dass diese Vernetzungen nicht nur innerhalb Europas stattfinden, sondern gerade auch mit Basisinitiativen in vielen Herkunftsländern von Migrant_innen, damit deren Regierungen durch öffentlichen Druck von der Straße aufhören müssen, die europäische Abschottung zu unterstützen.

    Mal sehen, was die nächsten Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte so bringen. Nicht sonderlich zukunftsfähig und innovativ erscheinen pseudo-abgeschottete Nationalstaaten mit ihren papierbewährten Staatsbürger_innen in einer globalisierten Welt. Bleibt die Frage, welches Modell das nächste auf der Weltbühne sein wird und wann und warum es zutage treten wird.

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