Photos: Sophia Zoe, Berlin

    Ist jeder Mensch eigentlich gleich wertvoll? Wer oder was rechtfertigt es, dass zufällige äußere Umstände dazu führen, ob ein Mensch einen Pass hat oder bekommt oder behält oder ihn verliert? Wer hat Pässe eigentlich erfunden? Und wer Visa, Aufenthaltstitel, …? Was heißt das: „Mensch ohne Papiere“? ?? ??? Warum finden es die meisten Menschen normal, dass nicht jede_r überall hin darf?

    Frankreich, Ärmelkanal, Fährhafen von Calais: Täglich starten hier 60 Fähren nach Großbritannien. In ihnen überqueren jährlich offiziell mehr als 10 Millionen Menschen und mehr als 1,5 Millionen LKW das Meer (Quelle: www.calais-port.fr). Es gibt aber auch andere Reisende. Jene ohne die richtigen Papiere. Sie kommen unter anderem aus Afghanistan, dem Iran, Syrien, Eritrea, Ägypten und nutzen dieselben Fähren. Sie sind gezwungen, heimlich auf die Schiffe zu gelangen – meistens versteckt in und unter LKW. Diese Menschen wollen aus ebenso vielfältigen Gründen nach Großbritannien wie ihre offiziellen Mitreisenden, dürfen es aber nicht.

    Am „falschen Ort“ von den „falschen Eltern“ geboren und schon ist mensch ohne jedes eigene Zutun Weltbürger_in zweiter Klasse. Dass mensch sich damit nicht abfinden muss, zeigen all jene, die trotzdem nach Europa kommen, das Mittelmeer überqueren, mit gefälschten Papieren auf europäischen Flughäfen landen oder eben in LKW versteckt Grenzen überqueren. Wenn Ausbeutung, warmgehaltene Konflikte, repressive Regime, Umweltzerstörung und Perspektivlosigkeit so stark werden, dass selbst Familie, Freunde und die gewohnte Umgebung keine Haltekraft mehr besitzen, warum dann nicht selbst sein Glück und seine Chance in den Wohlstandinseln der postmodernen Welt, im neokolonialen Norden suchen. Das Risiko ist groß, niemals anzukommen oder auf ewig nur willkommen zu sein für gefährliche, mies bezahlte oder gar kriminalisierte Drecksarbeit (Bau, Landwirtschaft, Gastronomie, …). Aber es nicht wenigstens versucht zu haben, wäre eine kampflose Niederlage.

    Frankreich, Ärmelkanal, in und um Calais: Die unerwünschten Reisenden leben in leer stehenden Häusern oder in Zeltlagern, die sich in den Dünen oder im Gehölz neben Rastplätzen befinden. Tagsüber versuchen sie, nicht aufzufallen und vor allem nicht der Polizei zu begegnen. Nachts finden die endlosen Versuche statt, ungesehen LKW oder direkt eine der abgesicherten Fähren zu besteigen. Manche schaffen es schnell, andere nie. Viele junge, entschlossene Menschen (meist männlich sozialisiert, oft minderjährig) versuchen ihr Glück, aber auch Alte und Familien sehen keinen anderen Weg. Die Migrant_innen leben vor Ort von Ersparnissen oder Geldsendungen ihrer Familien. Viele von ihnen werden von Freiwilligen in Suppenküchen direkt neben dem Fährhafen verpflegt oder zu Duschen außerhalb der Stadt gefahren. Die Polizei versucht, sie mit Razzien, willkürlichen Verhaftungen, körperlicher Gewalt und der Zerstörung von Hab und Gut davon zu überzeugen, dass es in Europa keinen Platz für sie gibt. Trotzdem lassen sich viele hundert Menschen nicht davon abhalten, ihr geplantes Ziel Großbritannien zu erreichen. Kaum haben es wieder einige Dutzend Migrant_innen über den Ärmelkanal geschafft, werden ihre Schlafplätze schon von den Nachfolger_innen eingenommen.

    Derweil läuft um sie herum das alltägliche Leben einer verschlafenen Kleinstadt. LKW und reiselustige Europäer_innen fahren ins abgezäunte Hafengelände und auf die nächste Fähre nach Großbritannien. Manche wundern sich, warum auf einer Wiese am Hafen kleine Zelte stehen. Die meisten sehen sie nicht oder ignorieren sie lieber. Besser nicht so genau darüber nachdenken, wer da warum am Hafen zeltet…

    Kathrin

    (Artikel für das „grünen blatt”, Frühjahr 2013)